Die Rentier Situation
In diesem Winter fallen fast tischtennisballgroße Schneeflocken vom Himmel. Eine Fünfergruppe Spatzen sitzt aufgeplustert und starr auf dem Klettergerüst des Spielplatzes. Jugendliche mit dicken Daunensteppjacken stehen wie große schwarze Schneebälle an der Bushaltestelle und zittern vor sich hin. Die Atemluft verwandelt sich sofort zu Nebel, sobald sie den Mund verlässt. Die Kälte zwickt schmerzhaft an der Nase.
Es sind noch zwei Tage bis Weihnachten, alles ist festlich geschmückt, es glitzert und blinkt allerorten. Hier und da riecht es nach Glühwein oder duftet nach Räucherkerzen und frisch gebackenen Plätzchen. In nahezu jedem Fenster fügen sich die beleuchteten Schwibbögen wie Waggons zu einem fast endlosen Weihnachtszug, der entlang der Straße fährt. Alles scheint perfekt vorbereitet für das Weihnachtsfest.
Doch dieses Jahr kommt es ganz anders: Fünf der acht Rentiere des Weihnachtsmannes haben akute Kniegelenksarthrose und so können sie den schweren Schlitten nicht ziehen. Der Mann mit dem roten Mantel hat schon alle Rentierausleihstationen in der nördlichen Hemisphäre abtelefoniert, aber zu Heiligabend sind sämtliche Huftiere ausgebucht. Dem Weihnachtsmann rinnen Schweißperlen von der Stirn. Eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht. Er nimmt die Mütze ab und fährt sich durch sein wallendes Haar.
Die Elfen vor den Schlitten zu spannen, ist keine Option, da macht die Gewerkschaft nicht mit. Die Pferde der hiesigen Schwarzbierbrauerei sind bis nach Neujahr mit den Bierlieferungen an die Gaststuben beschäftigt. Eine Möglichkeit wären die befreundeten Kaiserpinguine aus der Antarktis, doch diese würden es nicht mehr rechtzeitig schaffen, das letzte Schiff für dieses Jahr hat schon vor zwei Wochen abgelegt. Die arktischen Erdhörnchen haben sich bereits für ihren Winterschlaf zurückgezogen und er bräuchte sowieso deren viele, um den Schlitten zu bewegen. Der Weihnachtsmann ist verzweifelt.
Nach einem großen Krug Met fällt ihm ein, dass er seinen alten Weggefährten Thor anrufen und um Hilfe bitten könnte. Der nordische Gott ist ziemlich überrascht, seinen Sandkastenfreund an der Strippe zu haben, aber als er dessen Notlage erkennt, sagt er sogleich zu. Freunden hilft man immer, zumal es hier um den Weihnachtsfrieden geht. (An dieser Stelle sei angemerkt, dass in der heutigen Zeit sowohl der Weihnachtsmann als auch die Götter über die aktuellste Technik verfügen, denn die virtuellen Versandhäuser liefern sogar an den Nordpol und nach Asgard.)
Nachdem er den langen Weg von Asgard, dem Wohnort der Götter, hinab über die Regenbogenbrücke namens Bifröst nach Midgard, der Heimat der Menschen, gereist ist, steht Thor Stunden später mit seinem Hammer Mjölnir und einem breiten Grinsen im Gesicht vor der Haustür des Weihnachtsmannes. Nach einer herzlichen Umarmung wird beim Leeren mehrerer Krüge Honigwein das weitere Vorgehen besprochen: Die Rentiere sollen von den Sanitätselfen fürsorglich mit Moorpackungen und Physiotherapie behandelt werden. Die Frachtelfen sind für das transportsichere Beladen des riesigen Geschenkeschlittens verantwortlich. Dann sollte nichts mehr schief gehen.
Am nächsten Morgen ist es eisig kalt. Trotz eines leichten Katers vom vielen Met, aber voller Vorfreude, setzt sich der Weihnachtsmann in den Schlitten und fasst die Zügel. Thor, mit einem gefütterten Helm ausgestattet, legt sich das Zaumzeug an, welches sonst die Rentiere tragen. Seinem Hammer in der Hand, streckt er seinen rechten Arm nach vorn. Erst leuchtet Mjölnir auf, dann ruckelt der gesamte Schlitten und Sekunden später setzt sich das Gefährt sanft in Bewegung und wird schneller und schneller bis es abhebt. Beide Männer lassen dabei ihr tiefes „Ho! Ho! Ho!“ hallen. Weihnachten ist gerettet!
Exkurs: Es wird vermutet, dass die Figur des Weihnachtsmannes aus der nordischen Mythologie stammt. Der Gott Thor wurde früher als kräftiger, älterer Mann mit weißem Bart dargestellt, welcher mit einem Wagen, der von zwei Böcken gezogen wurde, durch den Himmel fuhr.
Thor als Donnergott wird durch die Farbe Rot symbolisiert, wahrscheinlich trägt deswegen der Weihnachtsmann einen roten Mantel. Zudem ist Feuer sein Element. Damit is zu erklären, warum er durch den Kamin die Häuser besucht. Der germanische Gott Donar ist dem nordischen Thor sehr ähnlich, nur hatte Donar einen Rentierschlitten. Zudem waren in Skandinavien und im germanischen Raum diesen Göttern die Feuerstellen geweiht.
Doch Thor war nicht nur Donnergott, sondern er und sein Hammer Mjölnir brachten den Menschen als Gaben eine reiche Ernte, Kindersegen und Fruchtbarkeit. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus der Brauch des Beschenkens von materiellen Dingen, die dann der Weihnachtsmann, der vormals Thor war, meistens persönlich zustellt.
Wer nun meint, das Christkind müsse die Geschenke bringen, dem sei gesagt, dass heutzutage Kinderarbeit unter Strafe verboten ist.