Der Pilot mit dem Schnurrbart

Gleich hinter dem Wald, vorbei am Feld, wo in diesem Jahr der Roggen stehen soll, wohnt in einem kleinen Haus aus roten Ziegeln der achtjährige Tom. Er sitzt an seinem Schreibtisch und malt mit Buntstiften Flugzeuge in seinen Zeichenblock. Aber nicht diese großen Maschinen, die hunderte Menschen auf einmal in ihrem Bauch verschlucken können, sondern diese kleinen offenen zweisitzigen Propellermaschinen. Die hat er in einem alten Film gesehen, den er letztens mit seinem Vater schaute.

Im Flugzeug sitzt ein Pilot in einer superschicken blauen Fliegeruniform. Er trägt eine Lederkappe mit einer runden Bullaugenbrille und er hat einen schwarzen Schnurrbart. Damit sieht er verwegen aus, aber seine Augen blitzen blau und sind voller Schalk. ‚So gefällt es mir!‘ denkt Tom und plötzlich überfällt ihn der dringende Wunsch, Oma Gertrud in Blumenholz zu besuchen. Dort kommt er ja erst wieder in den Sommerferien hin und es ist noch nicht einmal Ostern.

„Wir können gern zu deiner Oma fliegen!“ hört der Junge eine freundliche Männerstimme sagen. Erschrocken dreht er sich um. Der Pilot in seiner himmelblauen Uniform steht mitten in seinem Kinderzimmer und lächelt. Vor Staunen bringt Tom kein Wort hervor. Der Pilot neigt etwas den Kopf zur Seite und zwirbelt seinen Schnurrbart.

„Aber wie kann das sein? Sind sie echt?“ stottert der Junge voller Erstaunen. „Aber natürlich und das Flugzeug steht bereit für den Abflug!“ Und tatsächlich: Draußen am Feld tuckert der Motor eines kleines Flugzeuges und der Propeller an der Spitze des Fluggerätes wirbelt den Staub des Weges auf, so dass man den nahen Wald kaum erkennt.

Kurze Zeit später sitzen beide Abenteurer im Flugzeug. Tom hat auch eine Lederkappe und eine Schutzbrille bekommen und nun sausen sie mit dem Fluggerät den Feldweg entlang. Kurz vor der Waldkante heben sie ab. Die Eichen, Buchen und Kiefern wogen im Sog des Propellers. Die Welt unter dem Flugzeug wird kleiner. Tom erspäht das ziegelrote Haus mit dem kleinen Garten, in dem er wohnt, die Nachbarhäuser, den Dorfteich mit den Enten, die wie schwimmende Ameisen aussehen und plötzlich ist nur noch das Braun der Felder, das Grün der Wälder, das Blau der unzähligen Seen unter ihnen.

Schlagartig wabert rundherum Nebel. Nichts ist mehr zu sehen. Sie sind im Wolkenmeer gefangen. Zu allem Unglück fängt nun der Motor an zu stottern. „Was ist denn passiert?“ ruft Tom angsterfüllt dem Piloten zu, der vor ihm sitzt. „Unser Treibstoff ist gleich alle, wir müssen notlanden, sonst stürzen wir ab!“ antwortet er. Panik kriecht in dem Jungen auf. Er wird weiß wie Oma Gertruds beste Feiertagstischdecke. Dann erinnert er sich an den Zeichenblock in seinen Rucksack. Flugs malt er zwei Benzinkanister, die dann auch wie von Geisterhand hinter ihm in der Gepäckablage stehen. Zum Glück gibt es einen innen liegenden Tankeinfüllstutzen und der Pilot weist Tom an, wie der Treibstoff am besten in den Tank gefüllt wird. Tom schafft es. Er ist stolz und die stotternden Propeller drehen sogleich wieder richtig auf.

Es gibt einen Ruck und das Flugzeug fliegt schneller. Heraus aus dem Wolkenmeer hinein in den Sonnenschein. Dann fängt es wieder an zu grummeln. Tom erschrickt, merkt aber schnell, dass es sein Magen ist. Abenteuer machen nämlich hungrig. Dann erblickt er auch schon in der Ferne den Kirchturm von Blumenholz. Das Flugzeug wird langsamer und sinkt tiefer. Toms Augen suchen die Häuser ab. Dann erblickt er das mit Efeu berankte Haus seiner Großmutter und den Garten mit dem riesigen Kirschbaum. Der Pilot setzt zum finalen Landeanflug an. Das Flugzeug kommt etwas holperig auf der Wiese direkt unter dem Kirschbaum zum Stehen.

Oma Gertrud kommt wohl aufgrund des Lärms in den Garten gerannt und will sehen, was passiert ist. Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und ruft: „Wiedehopf und Moschusbock!* Was für eine Überrraschung! Mein Enkel ist da!“ Dann bemerkte sie den Piloten und ist beruhigt, dass der Junge nicht allein geflogen ist. „Nach dieser Aufgregung wollt ihr bestimmt etwas Leckeres zum Mittag essen. Kommt mit rein, ich habe eine Bolognese gekocht.“ Der Pilot bedankt sich charmant und meint, er müsse weiter fliegen, der nächste Auftrag wartet bereits. Er lächelt mit seinen blauen Augen, zwirbelt seinen Schnurrbart, startet den Motor und rumpelt den Gartenweg zurück, bis er kurz vor dem Zaun das Flugzeug in die Höhe reißt und hinter dem Birkenwäldchen verschwindet.

„Aber jetzt geht es ins Haus, du musst mir alles erzählen!“ fordert Oma Gertrud seinen Enkel auf. Die forsche Stimme lässt ihn aufschrecken. Seine Mutter steht neben ihm und meint, die Bolognese ist fertig und wartet unten in der Küche auf ihn. Tom steht vom Kinderzimmersofa auf, er muss wohl nach dem Zeichnen eingenickt sein. Er blickt verstohlen zum Schreibtisch und sieht das Propellerflugzeug mit dem Schnurrbartpiloten auf seinem Zeichenblock. Tom hätte schwören können, dass der Pilot ihm gerade zuzwinkert.

* „Wiedehopf und Moschusbock!“ sagt Oma Gertrud immer, wenn sie überrascht ist oder etwas Unglaubliches passiert.

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