Black Celebration oder Wie das Wehrlager erträglich wurde.
Juni 1986. Sämtliche Jungen der 9. Klassen müssen für zwei Wochen ins Wehrlager. Das war eine Art vormilitärische Ausbildung für Schüler. Die Weicheier und politisch kritische Schüler bleiben zu Hause und absolvieren mit den Mädchen einen „Lehrgang für Zivilverteidigung“. In Echt bedeutete das langweilige Sanitätskurse und Spießrutenlaufen bei den pubertierenden Mitschülerinnen. Die harten Jungs fuhren nach Zschorna, einem idyllisch im Wald gelegenen Kinderferienlager mit großem Badesee, das zwischen Dresden und Großenhain liegt.
Als wir mit dem Bus ankamen, standen bereits jede Menge Schüler aus anderen Schulen auf dem freien Platz vor dem Volleyballfeld. Vorsichtig wurde sich von Ferne beäugt. Willkürlich teilte man uns in Achtergruppen auf und wies uns feste Steinbaracken zu. Leider kam es auch vor, dass man mit nervigen Flitzpiepen aus der Parallelklasse zusammengesteckt wurde. Ich hatte da echt Glück, wie sich bald herausstellen würde. Wir legten unsere Habseligkeiten ab und gingen zur Einkleidung. Wir bekamen GST*-Klamotten und es fühlte sich seltsam an, eine Soldatenuniform zu tragen. Irgendwie starb in mir ein Stück Kindheit und die generelle Sicht auf eine schöne heile Welt.
Unser Gruppenführer für die nächsten beiden Wochen war ein junger Mann, so Anfang Zwanzig mit breitestem Süddresdner Dialekt. Er war Offiziersanwärter bei der NVA und er war fair zu uns. Das half uns sehr über die Zeit im Lager. Natürlich mussten wir im Laufe der nächsten Tage viel theoretischen Militärkram erdulden, aber wir lernten auch wirklich Dinge für das Leben: Orientierung im Gelände, der Umgang mit Kompass und Karte. Davon profitiere ich heute noch.
Doch Handgranatenweitwurf, ABC-Übungen mit Gasmaske und Schutzanzug bei sommerlichen Temperaturen, Ausdauerläufe und das Absolvieren der Sturmbahn inklusive Eskaladierwand stellte für viele körperlich und mental eine echte Herausforderung dar. Am Sinnlosesten fand ich das Exerzieren, was offiziell als „Ordnungsübung“ deklariert wurde.
Aber wenn wir am Tag alles zur Zufriedenheit des Kompaniechefs erledigt hatten, durften wir abends die Spiele der Fußball WM schauen, welche in Mexiko stattfand. Sogar die Spiele des Klassenfeindes BRD waren uns erlaubt. Der Speisesaal, in dem ein 70er Farbfernseher aus Staßfurt an der Wand hing, war bei den Übertragungen rappelvoll. Man erkannte von hinten kaum einen Spieler, denn HD-Fernsehen gab es bei einem Röhrenmonitor nicht. Aber wir fieberten mit, auch wenn wir nur die Trikotfarbe erkannten. Am Ende wurde Argentinien Weltmeister und die Bundesrepublik Zweiter. Was wir damals nicht wussten, dass vier Jahre später der Weltmeister Deutschland hieß und es gar keinen Klassenfeind mehr gab.
Die Jungs, die mit mir in der Baracke hausten, waren in Ordnung. Die Hälfte kannte ich zwar nicht, da sie aus anderen Städten kamen, aber wir waren alle ferienlagererfahren und fanden schnell zueinander. In jeder freien Minute spielten wir Skat und verfeinerten dabei unsere spielstrategischen Fähigkeiten. Wir waren nah dran, ins Junioren-National-Team der DDR aufgenommen zu werden, wenn es das gegeben hätte.
Der Held unserer Baracke war jedoch Stefan, denn er hatte seinen SKR 700 (Stereo-Kassettenrekorder vom VEB Sternradio Berlin) mit ins Lager geschmuggelt. Aber damit nicht genug. Eine astreine Kopie des erst im März erschienenen Depeche Mode Albums „Black Celebration“ steckte im Kassettenfach. Der Westverwandtschaft sei Dank. Die Singleauskopplungen „Stripped“ und „A Question of Lust“ kannte man schon aus dem Radio, aber das ganze Album! Es war wie Weihnachten und das gleich zweimal!
Voller Verzückung lauschten wir den zumeist melancholischen Klängen. Nach zwei Tagen gingen einige Kameraden freiwillig und kopfschüttelnd nach draußen, wenn Stefan und ich die Kassette das vierte Mal hören wollten. Die Stimmung des Albums traf genau unseren Nerv. Wir wünschten uns, wenigstens einmal im Leben ein Depeche Mode Konzert zu besuchen, was wir später natürlich ausgiebig taten, aber zu diesem Zeitpunkt nur kühn erträumten.
Am Ende der zwei Wochen leierte die Kassette schon etwas. Aber das war egal, die Musik war und ist einfach grandios. Die Zeit in Zschorna hat mein Leben verändert: Ich bin ein wenig erwachsener geworden und in mir manifestierte sich eine bis heute andauernde Liebe zu dieser Art von Musik.
*GST – Gesellschaft für Sport und Technik (vormilitärische Massenorganisation der DDR, der vor allem Lehrlinge angehörten)