Schwarze Knorpelkirschen
Die Sonne schafft es nicht, das dichte Blätterdach des riesigen Kirschbaumes zu durchdringen. Das ist gut, denn das Thermometer steht inzwischen jenseits der 30 Grad Marke und ein Sonnenbad wäre unaushaltbar. Da ist es ein großer Luxus, im Schatten unter dem Baum zu liegen, dem sanften Rascheln der Blätter zu lauschen und seinen Gedanken nachzuhängen. Hin und wieder stibitzt ein Star eine dicke schwarze Knorpelkirsche aus den oberen Etagen des Baumes. Sommerferien, was gibt es da Schöneres?
Neben mir steht zwei Fünf-Liter-Eimer randvoll mit den reifesten und süßesten Kirschen, die man sich vorstellen kann. Natürlich habe ich direkt beim Pflücken jede Menge Steinobst verdrückt und das muss ich jetzt verdauen. Mutter kommt vorbei, nimmt die Eimer und sieht dabei verräterische Spuren an meiner kirschsaftverschmierten Schnute, aber sie lächelt nur.
Die Kirschen werden eingekocht, damit wir sonntags im Herbst und Winter ein leckeres Kompott nach dem Braten haben. Interessanterweise hat sich der ehemalige Windeltopf wegen seiner immensen Größe als perfektes Utensil zum Einkochen der großen Gläser herausgestellt. Die jüngeren Leser werden an dieser Stelle wahrscheinlich ein wenig die Stirn runzeln, aber als ich ein Baby war, gab es nur Baumwollwindeln und diese wurden regelmäßig in einem ziemlich großen Topf ausgekocht.
Später räumten Vater und ich die Gläser in den Keller und nun standen diese einträchtig neben den noch leeren Gläsern, welche im Herbst mit Pflaumen befüllt werden. Mein Bruder, der Chefmathematiker, ging regelmäßig in den Keller und zählte die Gläser durch und rechnete dann aus, ob sie wirklich bis zur nächsten Ernte reichen. Manchmal wurde es sehr eng, aber letztendlich gab es jedes Wochenende ein Glas Steinobstkompott.
Nun gibt es den Baum nicht mehr. Er musste letztes Jahr weichen. Er war schon sehr alt und einige Äste waren durch Stürme abgebrochen, Seine Rinde war an vielen Stellen aufgeplatzt, Armeen von Ameisen bedienten sich an seinem Saft. Zudem ächzte der Baum in den letzten Jahren immer mehr unter der enormen Last seiner Blätter. Man musste nur genau hinhören. Die Ausbeute an Früchten war weit von seinen Glanzzeiten entfernt. Dennoch war er ein willkommener Schattenspender. Die Kohlmeisen nisteten auch im Schicksalsjahr in der Beletage des Baumes, ohne sich des kommenden Dramas bewusst zu sein. Im Frühjahr summten und brummten Bienen und Hummeln noch im weißen Blütenmeer und labten sich an den Pollen, als wäre alles in Ordnung. Nun ist an diesem Platz unschuldiger grüner Rasen. Doch vielleicht kommt bald ein kleiner Baum an seine Stelle, der dann ebensolche leckeren Kirschen hervorbringt.
Oft denke ich an dich zurück Prunus avium, du Große Schwarze Knorpelkirsche. Du hast mich etliche Jahrzehnte meines Lebens begleitet und ich vertraue dir ein kleines Geheimnis an: In all den Jahren habe ich zwei oder dreimal ein Glas aus dem Keller gemopst und es heimlich ganz allein vernascht. Aber verrate es bitte nicht meinem Bruder.